AKTUELLsentipost nr. 1/23 – 3 – «Ich habe sie gesehen. In der Nacht. Ich wachte auf, spürte die Bewegung unter meinem Kissen und sah, wie sich ihr Schatten entfernt. Ich habe sie gesehen, es gibt sie! Sie hat den Zahn dagelassen, meine Mama sagte, vielleicht auch als ein Geschenk der Erinnerung für sie. Mir brachte sie zehn Franken für den Zahn. Es gibt die Zahnfee! Ich weiss es!» Mit Tränen in den Augen, fast kämpfend und trotzend, ihre Welt verteidigend, er - zählte Dea von ihrer Begegnung mit der Fee, die seit Jahrtausenden die Milch - zähne sammelt. Das spannende Gespräch über die mythischen Gestalten, die in unserer Kindheit leben, entwickelte sich an einem sehr entspannten Kindernach - mittag. Die Kinder bauten sich eine Oase der wohligen Wärme, aus Decken und Kissen und Matten entstand im Sentitreff ein Raum des Vertrauens, Sinnierens und Hinterfragens. «Nein. Das war sicher deine Mutter. Zahn fee gibt es nicht. Alles Lügen. Weih - nachts mann auch. Oder Osterhase. Alles nur Geschichten. So was gibt es nicht. Die Geschenke bringen die Eltern. Die legen auch das Geld unters Kissen. Diese Ge - stalten sind aus den Märchen. Die leben nicht.» Nüchtern und ruhig erwiderte die 8-jährige Leandra. «Aber …heisst das, meine Mama tut das alles? Sie beschenkt mich? Den Weih - nachtmann gibt es nicht?», fragte verun- sichert der 7-jährige Reiko. «Klar. Es sind nur die Eltern», erwiderte die 9-jährige Maya bodenständig. Ein Schweigen entstand, welches lauter war als all die Stimmen zuvor. Man hörte die Ziegelsteine der Weltanschauung und Hoffnung, des Vertrauens und der Er in - nerungen sich bewegen, vi brieren, zer- bröckeln. Ein kleines Erdbeben des Welt - bildes. Etwas Selbstverständliches wird für Aberglauben erklärt, von langjähri- gen Spielkameraden und Freunden. Der Glaube an diese Wesen, die gutmütigen und wohlwollenden Figuren, den gerech- ten Samichlaus, den fabelhaften Oster - hasen, die trostgebende Fee, welche bis zu diesem Nachmittag bedenkenlos zum Leben gehörten, wird für dummes Ge - quatsche erklärt. Von eigenen Gspänlis, welchen vertraut wird. «Du weisst nicht, was du sagst. Vielleicht kommt die Zahnfee zu dir nicht. Oder der Osterhase. Und du bist nur neidisch.» «Ich bin nicht neidisch. Ich bin nur nicht dumm.» «Aber warum belügen uns die Eltern? Das ist unmöglich. Vielleicht belügen euch eure Eltern, dass es keinen Oster - hasen gibt.» Es wurde hitzig, wie oft, wenn solche grund legenden Prinzipien angefochten und angezweifelt werden. Sie sind oft Gesetzmässigkeiten, welche das Sicher - heitsnetz des Vertrauens bilden, eine Struktur der Verlässlichkeit geben und zu einem Teil unserer Identitätsbildung bei- tragen. Die Schutzpatrone einer vertrau- ensvollen Kindheit, der Hase, der bärtige Mann, die Sammlerin, wurden als Eltern - verrat definiert. Für uns im Team war es eine herausfor- dernde Situation. Unsere Aufgabe als Er - wachsene ist es, die Kinder zu ermutigen, sich zu finden und sich treu zu bleiben. Unabhängig von unserer individuellen Einstellung oder der Sicht der anderen. Sie wendeten sich an uns, wünschten sich, wir würden Partei ergreifen, das Sinnieren, welches zur hitzigen Debatte wurde, mit klarem Urteil beenden. Ein Urteil hatte da so wenig Platz wie ein Vorurteil, ja, wäre eigentlich dasselbe. Manchmal gibt es keine objektive, all - gemeingültige, validierte Realität. Bei Glau ben und Hoffnung sicher nicht. Von der Wirklichkeit sehen wir das, was unse- ren Aufnahmemöglichkeiten entspricht. Aber von den Idealen auch. Im Versuch zu schlichten, sagte ich: «Manch mal muss jeder seine Wahrheit selbst finden. Und manchmal ist es sogar nicht die gleiche. Ein Kind, welches in Afrika aufwächst, glaubt, dass es immer warm ist. Und das ist seine Realität. Ein Kind am Nordpol glaubt, es ist immer kalt, und empfindet dieses Klima als nor- mal und alltäglich. Für sie ist es vollkom- men unwichtig, ob es bei uns Jahres zei - ten und Temperaturunterschiede gibt. Die Wirklichkeit ist nicht überall gleich. Oder gleichbleibend.» Und sie trägt noch weiter unzählige Mög- lich keiten in sich. Und entsteht aus den Träu men. Kinderwelten im Wandel von Jovanka Brusin, Leiterin Kinderanimation Sentitreff KopfstandZahnfeen + kinder seite Gespräche am Kindernachmittag