Als wäre es gestern gewesen, er- innere ich mich an das erste Geld, das ich mit Arbeit verdiente. Mein Vater war Heizungsmonteur. Als ich genug alt war, nahm er mich in den Sommerferien jeweils für zwei bis drei Wochen auf seine Baustelle mit, wo ich ihm helfen durfte. Damals ging es für mich vor allem um die Möglichkeit, das Sackgeld aufzubessern, um mir endlich mein erstes eigenes «Töffli» kaufen zu können. Heute weiss ich, dass es um viel mehr ging. Ich lernte meinen Vater besser kennen und machte vor allem einen wichtigen Schritt in das Leben der Erwachsenen. Ich begriff, warum Arbeit so wichtig ist und sogar glücklich machen kann. Endlich war es möglich, mir lang ersehnte Wünsche zu erfüllen, die freie Zeit wurde plötzlich viel wert- voller, das Lob des Vaters am Feier- abend tat gut. Wenn wir am Abend zusammen nach Hause fuhren, war ich müde und zufrieden. Auf dem Bauernhof Noch vor diesen Arbeitseinsät- zen erlebte ich Ähnliches in den Sommerferien auf dem Bauernhof meines Grossvaters, wo noch fast alles von Hand gemacht wurde. Wir schwitzten stundenlang beim Heuen und freuten uns auf die Pau- sen im kühlen Schatten und auf die Abende im Stall. Manchmal stan- den wir sogar mitten in der Nacht freiwillig auf, um bei der Geburt eines Kälbchens dabei zu sein. Wir halfen dem Grossvater, wo wir nur konnten. Ich bin bis heute froh, dass ich damals solche Vorbilder hatte. Obwohl mein Vater als Handwer- ker viel erreichte, gab er mir da- mals zum ersten Mal folgenden Rat: «Schau zu, dass du einen Beruf erlernst, bei dem du keine schmut- zigen Überkleider tragen musst.» Er hat ihn später oft wiederholt, weshalb ich ihn wohl nie verges- sen werde. Ich nahm ihn auch sehr ernst. Erfolgreicher Lehrabschluss Als braver Bub gehörte ich immer zu den Besten in der Schule. Trotz- dem machte ich bereits als Jugend- licher erste Erfahrungen mit Dro- gen. Diese wirkten sich natürlich negativ auf meine Leistungen aus. Es begann mit dem Abbruch des Gymnasiums. In der KV-Lehre hielt ich es auch nicht lange aus. Nur auf dem «letzten Drücker» schloss ich wenigstens noch eine Bäcker- lehre ab. Mein Vater war enttäuscht. Wir freuten uns trotzdem, dass ich wenigstens ein erstes Ziel in der Arbeitswelt erreicht hatte. Als nächstes absolvierte ich sogar die Rekrutenschule. Die Drogen spiel- ten in meinem Leben vorüberge- hend keine zerstörende Rolle mehr. Jetzt standen mir wieder alle Wege offen, zumal die Welt vor dreissig Jahren nicht mit der von heute zu vergleichen ist. Damals Die grösste Angst der Bevölkerung war damals noch nicht jene vor dem Verlust der Arbeitsstelle. Und wer nicht englisch konnte, hatte noch nie etwas von «Mobbing» gehört. Es gab noch keine Computer, die ganze Büroabteilungen überflüs- sig machten, oder CNC-Maschinen und Roboter, denen die Belegschaft von vielen Tausend Menschen (in Überkleidern) zum Opfer fielen und immer noch fallen. Vor dreissig Jahren wurde ich sogar noch von einer Versicherung ange- stellt, obwohl ich keine kaufmän- nische Ausbildung hatte. So konn- te ich meine Überkleider wieder im Schrank versorgen. Regelmässiger Tagesablauf Es fiel mir alles sehr leicht, viel- leicht etwas zu leicht. Das änderte sich schlagartig, als mir Drogen erneut einen Strich durch die Rechnung machten. Mit jedem Ab- sturz wurde die Situation schwie- riger. Jetzt lernte ich noch etwas dazu: regelmässige Beschäftigung schützt mich vor Dummheiten. Weil ich nicht zu den Menschen gehöre, die mit freier Zeit gut um- gehen können, brauche ich drin- gend einen Job, wenn ich nicht im Drogensumpf untergehen will. Glücklicherweise habe ich auch immer wieder genug Willenskraft aufgebracht, meine Sucht zu be- kämpfen. Über längere Zeit gelang mir das aber nur, wenn ich mich an einen regelmässigen Tagesablauf halten musste, den mir eine Ar- beitsstelle vorgab. Arbeit und Sucht Inzwischen kommt mein fünzigster Geburtstag immer näher. Ich habe in meinem bisherigen Leben jede Kombination von Anstellungsver- hältnissen und Drogensucht ken- nen gelernt. Dazu gehören dro- genfreie Jahre mit gut bezahlten Bürojobs, schweisstreibende Tem- poräreinsätze auf Baustellen oder totale Absturzphasen ohne Arbeit. Am schlimmsten sind mir die Zeiten in Erinnerung geblieben, in denen ich Arbeit und Sucht gleichzeitig bewältigen musste. Die wenigsten sind sich bewusst, dass auch Dro- genabhängigkeit mit harter Arbeit verbunden ist. Denn die Finanzie- rung einer Drogensucht bedeutet sehr viel Stress. Wenn dann der Lohn nicht mehr für die Drogen reicht und man das Einkommen mit illegalen Aktivitäten aufbes- sern muss, wird es erst richtig hart. Statt Feierabendbier Wenn deine Arbeitskollegen ihr le- gales Feierabendbier trinken, bevor sie ihre Freizeit geniessen, musst du den Stoff für den nächsten Tag auftreiben, damit du nicht auf dem Entzug zur Arbeit musst, was zum Allerschlimmsten gehört. Dazu kommt das elende Versteck- spiel, welches einen zusätzlich dazu zwingt, noch etwas besser und mehr zu arbeiten als die Kolle- gen. Denn auf den Arbeitsämtern, in Temporärbüros und auf dem So- zialamt sind Dutzende auf deinen Job scharf. Viele geben spätestens an diesem Punkt auf und finden sich auf dem Sozialamt wieder. Dort müssen sie sich entscheiden für ein Leben auf der Gasse oder einer Anstellung zum Mindestlohn bei einem Be- schäftigungsprogramm. Beschäftigungsprogramme Ich kenne viele dieser Beschäf- tigungsprogramme, die in den letzten Jahren entstanden sind. Eigentlich hatte ich vor, einen kritischen Artikel über diese An- gebote aus dem zweiten Arbeits- markt zu schreiben. Aber weil ich mich gerade mal wieder aus einer Krise herauswühle, ist es, wie man lesen kann, ganz anders gekom- men. Inzwischen gibt es für jede Lebens- situation eine Beschäftigungsmög- lichkeit, wenn es auch «nur» die Erledigung des Geschirrspülens in der GasseChuchi ist. Mehr als ein- mal habe ich mich freiwillig dafür gemeldet und vielleicht genau in diesen zwei Stunden wieder die Kurve auf den für mich richtigen Weg gefunden. Seit vielen Jahren ist es mir so- gar möglich, dank Methadon- und Heroinprogramm Drogensucht mit Arbeit zu vereinbaren. Natürlich vereinfacht das die Situation er- heblich, obwohl auch diese Ersatz- drogen täglich organisiert werden müssen. Dank der GasseZiitig Es bleibt so wieder etwas Freizeit übrig. Weil es mir besser geht, wenn ich mich beschäftige, schrei- be ich seit Tagen an diesem Artikel für die GasseZiitig, die dann von Menschen verkauft werden kann, die damit ein paar Franken ver- dienen können. Manch eine und manch einer ist sicher auch froh, wenn er oder sie für ein paar Stun- den etwas arbeiten kann, mit Men- schen in Kontakt kommt und am Abend müde und zufrieden zu Bett geht. Selten gibt es auf der Gas- se so viele zufriedene Gesichter, wie an den Erscheinungsdaten der GasseZiitig. Es liegt nicht nur an der Möglichkeit etwas Geld zu ver- dienen. Davon bin ich überzeugt. Vorbild für den Sohn Meinem Sohn, der jetzt fünfzehn Jahre alt ist und sich für einen Beruf entscheiden muss, habe ich folgende Ratschläge gege- ben: «Schau dir so viele Berufe wie möglich an. Achte nicht auf Äusserlichkeiten wie Lohn und Arbeitskleider, sondern auf dein Gefühl. Denn du wirst nach deiner Leistung beurteilt. Und du kannst nur gut sein, wenn du deine Arbeit gerne machst und am Feierabend zufrieden nach Hause gehst.» Aber das sind nur Ratschläge. Ich weiss genau, dass es viel wichtiger ist, ihm ein gutes Vorbild zu sein. Kurt B. GasseZiitigLozärn Vor dreissig Jahren sah die Situation auf dem Arbeitsmarkt anders aus als jetzt. Wenn heute jemand mit Drogen zu kämpfen hat, wird das Leben erst recht schwie- rig. Aber es ist trotz allem zu bewältigen. Dazu ein Erfahrungsbe- richt. Arbeiten um zu leben oder leben um zu arbeiten «Die wenigsten sind sich bewusst, dass auch Drogen- abhängigkeit mit harter Arbeit verbunden ist.» Kurt B. «Ich begriff, warum Arbeit so wichtig ist und sogar glücklich machen kann.» Kurt B. «Ich habe immer wieder genug Willenskraft auf- gebracht, meine Sucht zu bekämpfen.» Kurt B. Nach einem Arbeitstag ist man zwar erschöpft, aber zufrieden, wenn man eine Arbeit macht, die einem gefällt. Bild: GaZ Seite 8 Nr. 47 Dezember 2011