Bei der Planung meiner Ferien erwachte die Erinnerung an eine Spanienreise als junger Erwach- sener, auf der ich in Santiago de Compostela, dem endgültigen Ziel des Jakobsweges, einen Zwi- schenstopp gemacht hatte. Da- mals wusste ich noch nichts von der Bedeutung dieser Stadt. Mir fielen nur die vielen Wanderer auf, die total erschöpft, aber mit einem glücklichen Ausdruck auf dem Gesicht die Strasse herunter in Richtung der grossen Kathedra- le marschierten oder stolperten. Bücher Weil inzwischen wohl jeder schon einmal vom Jakobsweg gehört hat und ich hier keinen weiteren Reisebericht schrei- ben will, empfehle ich allen, die sich für diesen Pilgerweg interessieren, sich in der Stadt- bibliothek eines der vielen «Ja- kobsweg-Bücher» auszuleihen. Bevor ich zwanzig Jahre nach meinem Aufenthalt in Santiago de Compostela meine Ferienwünsche anmeldete, deckte ich mich mit Büchern über den Jakobsweg ein. In den meisten wird die Zeit vor oder nach einer Pilgerreise kaum erwähnt. Deshalb handelt mein Artikel von diesen Erfahrungen. «Schlafen im Stroh» Ich stellte fest, dass der Jakobsweg zu den am besten ausgebauten Wanderwegen Europas zählt und auch durch die Schweiz führt. Schnell war mir klar, dass ich in meinen nächsten Sommerferien lange Wanderungen machen wür- de. Ich freute mich darauf, end- lich wieder einmal für längere Zeit von meinem Wohnort wegzukom- men und war glücklich, dass ich mir dies finanziell leisten konnte. Denn preiswerte Übernachtungs- möglichkeiten gab es auf Bauern- höfen, die «Schlafen im Stroh» an- bieten oder in Jugendherbergen. Seriöse Vorbereitungen Weil ich kein Freund von Überra- schungen bin, begannen die seri- ösen Vorbereitungen meiner Rei- se schon einige Wochen vor dem Starttermin. Als Erstes reservierte ich in meiner Wohnung eine Ecke, in der ich den Inhalt meines Ruck- sacks vorbereitete. Der musste un- bedingt das Wichtigste enthalten, sollte dabei aber so leicht wie möglich bleiben. Da kam mal eine Taschenlampe und Ersatzschuh- bändel dazu oder ein Pullover und eine Ausgangshose wurden wie- der weggepackt usw. Gebraucht habe ich dann vor allem einen guten Reiseführer. Da ich von Anfang an möglichst fit sein wollte, machte ich an den Wochenenden vor Reisebeginn rund um Luzern längere Wande- rungen und entdeckte dabei ei- nige schöne Gegenden, die direkt vor meiner Haustüre beginnen. Angst vor Unbekanntem Nachdem ich mich für die Rei- seroute und den Starttermin der Wanderung entschieden hatte, wollte ich möglichst viele Schlaf- plätze organisieren. Aus dem Rei- seführer entnahm ich die nötigen Telefonnummern. Ich stellte aber bereits nach den ersten Anrufen fest, dass ich viel mehr als die erste Übernachtungsmöglichkeit gar nicht organisieren musste. Al- les Weitere würde sich jeden Tag neu entscheiden. Eine Wanderung mit so vielen Un- bekannten machte mir aber auch Angst und ich war froh, als es dann – das war letzten Sommer – endlich losging. Von den Erinnerungen, die ich in einem Tagebuch festhielt, möch- te ich nur ein Erlebnis erwähnen, weil es vielleicht in die Zukunft weist. «Pilgerpass» Am zweitletzten Abend traf ich auf eine offizielle Pilgerherberge, wo ich für ein paar Franken ei- nen «Pilgerpass» kaufen musste, um dort übernachten zu können. Dieser «Pass» ist ein robustes Falt- blatt. Jeder wichtige Ort auf dem Jakobsweg hat einen eigenen Stempel. Wenn man seinen Pil- gerpass mit diesen Stempeln füllt, kann man offiziell beweisen, wo einen der Jakobsweg bisher hin- geführt hat. Er wurde mir öfter von stolzen Wanderern gezeigt. Mich interessierte das nicht wirk- lich, weil ich die Wanderung ja für mich machte und lieber Tagebuch führte, um mich später daran zu erinnern. Jetzt bekam dieser Pass aber auch für mich eine handfeste Bedeutung. Auf der ersten Seite steht zudem fol- gender Eintrag: «Ich bin Pilger/in auf dem Jakobsweg, der mich der- einst nach Santiago de Composte- la führen kann.» Wer weiss? Am Ende der Ferien ging es mir jeden- falls so gut, dass ich am liebsten sofort weitergewandert wäre. Zehn Tage – 500 Franken Auf der Heimfahrt mit dem Zug und während der ersten Tage zu- hause machte ich mir folgende Gedanken: Es ist möglich, in der Schweiz zehn Tage Ferien zu ma- chen, zahllose schöne Erlebnisse zu haben – einige weniger schöne habe ich fast vergessen – wunder- schöne Orte kennen zu lernen und dafür kaum mehr als 500 Franken zu bezahlen. Dazu kam noch, dass ich täglich gesünder wurde und der Rucksack jeden Morgen etwas weniger auf die Schulter drückte – der materi- elle Rucksack aber auch jener, in dem ich all meine Sorgen und Nöte mit mir herumschleppe. Vielleicht hatte das auch etwas damit zu tun, dass ich einige Kirchen und Wallfahrtsorte besichtigte, wie es zu einer Pilgerreise ja gehört. Leute kennen gelernt Abgesehen davon war es ein- drücklich zu merken, wie man mir fast überall wohlwollend begeg- nete. Obwohl ich meistens alleine wanderte, lernte ich unterwegs in- teressante Menschen kennen. Das Gefühl zu einer Gruppe zu gehö- ren und trotzdem selbstständig zu sein, hat mir gut getan. Wünsche gingen in Erfüllung Während der Wanderung hat- te sich fast jeder Wunsch erfüllt: Wegweiser tauchten auf, wenn ich mich mal wieder verirrt hat- te. Oder ein Brunnen spendete mir das lange ersehnte Wasser. Lag das daran, dass ich jede Menge Ener- gie und Geduld vorrätig hatte, um mich auf die Erfüllung meiner Wünsche zu konzentrieren? In den ersten Tagen zuhause lebte ich noch auf einer rosaroten Wolke. Die gut gemeinten Kom- plimente, die ich erhielt, halfen mir nicht, von dort wieder runter- zukommen. Weil ich innert zehn Tagen fast 200 Kilometer zurück- legte, war ich auch zu Recht stolz auf mich. Schwierige Rückkehr Die Wanderung liegt nun fast ein Jahr zurück und mir werden nun immer mehr auch die schwie- rigen Momente meiner Rückkehr bewusst. Ich vergass, dass mein «richtiges Leben» nicht nur auf dem Jakobsweg stattfindet und verpasste es, von meiner Wolke wieder hinabzusteigen. Spätestens an den Neujahrsfeiertagen knallte ich dann umso heftiger von dort herunter. Zurück im Alltag Im Alltagsleben erfüllten sich meine Wünsche nicht mehr so einfach. Vielleicht, weil mir die Energie und die Geduld dafür am Briefkasten, am Arbeitsort oder ganz einfach vom täglichen Über- lebenskampf weggefressen wurde. Davon stand nichts in den Reise- führern und -Berichten. Es ist ja auch meine eigene, persönliche Erfahrung. Ich bin trotzdem froh, dass ich sie gemacht habe. Falls ich wieder einmal auf eine Pilgerreise gehe, werde ich mich an diese Rückkehr erinnern und hoffentlich nicht mehr so lange brauchen, um mich im Alltag wie- der zurechtzufinden.Kurt B. Über das Wandern auf dem Jakobsweg wurde schon sehr viel geschrieben; hingegen wenig über die Vorbe- reitungen und das oft schmerzliche Ankom- men zuhause. Unser Autor Kurt B. füllt hier diese Lücke. Vor und nach dem Jakobsweg «Ich bin Pilger/in auf dem Jakobsweg, der mich dereinst nach Santiago de Compostela führen kann.» Eintrag im «Pilgerpass» GasseZiitigLozärn Seite 8 Nr. 51 Mai/Juni 2013 Bei einer Pilgerreise geniesst man die Ruhe und die Natur. Bild: Fotolia