Verkauf in Stadt und Agglomeration LuzernMai 2015, Nr. 57 Auflage: 10'000 Herausgeber: Verein Kirchliche Gassenarbeit Luzern Mitgearbeitet haben: Bea, Daniela, Franco, Heinz K., J. Meier, Lorenz Schaffner-Holkar, Manuel P., Maya, Miro Zivadinovic, Nadine, Pius, Roger J., Samantha, Srdjan, Claudia Bachmann, Willy Ammann Liebe Leserin, lieber Leser Die Bilder vom Letten oder von der Drogenszene in der Eisengasse in Luzern sind vielen heute noch prä- sent. Die grossen Ansammlungen sind vor rund zwanzig Jahren ver- schwunden. Die niederschwellige Suchthilfe wurde ausgebaut, was eine grosse Errungenschaft ist. Heute stellt sich die Frage, ob die Verwaltung der Drogensucht nicht auch Probleme in sich birgt. Es gibt immer noch viele drogen- süchtige Menschen. Sie sind je- doch versteckt. Die Abschottung von unangenehmen Gruppen birgt stets das Risiko eines uniformen Mainstreams. Man hat sich an den allgemein gültigen Verhaltensko- dex zu halten. Die Anhäufung von Kapital und ein möglichst sensati- onelles Leben werden angestrebt. Würde die Gesellschaft den weni- ger leistungsfähigen und allenfalls auch suchtkranken Menschen im öffentlichen Raum, in den Betrie- ben und den Miethäusern mehr Platz bieten, wäre dies für die mei- sten Leute auch von Vorteil. Die Toleranz fördert nämlich letztlich die Freiheit jedes Einzelnen. Wir danken für Ihre Solidarität so- wie das Interesse und wünschen Ihnen spannende Lektüre. Ihre GaZ-Redaktion Inter Amore-Turnier Der 1. FC Listo und die AC Gas- seChuchi nahmen am Turnier von Inter Amore teil. Seite 2 Sicherheitsdienst Sicherheitsangestellte kontrollieren den Zugang zur Kontakt- und An- laufstelle und der GasseChuchi. Seite 6 Medikamentensucht Viele Leute von der Gasse konsu- mieren Medikamente, von denen sich abhängig sind. Seite 5 Seite 3 Verstorbene Es wird Abschied genommen von geliebten Freunden und Angehöri- gen, die verstorben sind. Ich war bis im Februar in Haft im Gefängnis Pöschwies, Regensdorf. Da ich die Straftaten in Zürich be- gangen hatte, war ich im Kanton Zürich im Gefängnis. Meine Schrif- ten habe ich allerdings in Luzern. Schwarzes Schaf Ich bin das schwarze Schaf in un- serer Familie. Von Beginn an. Mein Bruder machte die Matura. Meine Schwester ist auch in die Gesell- schaft integriert. Als Kind war ich immer gefangen und kontrolliert. Meine Eltern waren überperfekt. Es begann damit, dass mein Vater ausrechnete, wie lang der Weg zum Kindergarten war, nämlich genau vier Minuten. Kam ich später nach Hause, gab es Prügel. Auch an den freien Tagen durfte ich nicht mit Kameraden und Kamera- dinnen spielen oder in die Pfadi gehen. Zuhause hatte es immer Ar- beit und Prügel auf Vorrat. An den Elternabenden in der Schule er- schienen meine Eltern nie. Deshalb bin ich dann ausgebrochen. Aus Trotz meinen Eltern gegenüber. Drogen und Elend Ich bin Schweizer mit Schweizer Pass. Secondo. Nach Ausbruch des Krieges im ehemaligen Jugosla- wien sind viele Flüchtlinge in die Schweiz gekommen. Im Quartier bildeten sich Gruppen. Ich bin in eine geraten, die mit Drogen han- delte, stahl und ihr bandenmäs- siges Treiben veranstaltete. Ich bin so falschen Propheten aufgesessen und habe mein Leben innerhalb von eineinhalb Jahren verbaut. Drogen kamen. Das ganze Elend. Eigentlich bin ich ein Arbeitstier, ein sogenanntes Nutztier also. Mei- ne Lehre als Bodenleger habe ich abgebrochen. Ich hoffte, Halt in der Rekrutenschule zu bekommen. Das funktionierte auch nicht. Später habe ich freiwillig in einem Senio- renheim gearbeitet. Wie frei darf man sein? In Pöschwies arbeitete ich. Einge- sperrt mit Menschen, mit denen ich eigentlich nichts zu tun haben wollte. So wohnten und arbeiteten hier «Eierdiebe» zusammen mit Mördern unter dem gleichen Dach. In meiner freien Zeit habe ich ge- lesen und geschrieben. Die Einsam- keit war gross. Auch ein Buch habe ich fertig gestellt. Aber wer druckt es? Im Gefängnis heisst es ruhig und unauffällig sein. Es gab auch eine Auszeit. Die dauerte zwanzig Minuten, spazieren im Hof. Auch begann ich zu philosophieren und zu meditieren. Die heutige Gesell- schaft ist mehr auf das Materiel- le bezogen. Je grösser das Konto, desto freier ist man, desto mehr Möglichkeiten hat man. Ich habe jedoch gelernt, dass Freiheit aus Einfachheit entsteht. Zu viel Besitz macht unfrei. Freiheit ist eine Illusion. Eine phi- losophische Frage: Wie frei darf man sein? Es wird einem diktiert, wie frei man sein darf. Aber es ist auch gut, dass wir Gesetze haben, welche die Freiheit einschränken. In meinem Fall habe ich mir die Freiheit genommen, eine Art Ei- genjustiz zu üben. Dabei bin ich an Grenzen gestossen, und ich habe feststellen müssen, dass ich die- se Freiheit nicht habe. Der Staat kann also sagen, was Freiheit ist; das ist zu akzeptieren. Beraubt jemand einen anderen Menschen seines freien Willens, überschreitet er die Grenzen der zulässigen Frei- heiten. Keiner darf dem anderen willkürlich diktieren, was er zu tun hat, nur weil er mehr Macht hat. Unter dieses Kapitel fallen auch die Gehirnwäsche und die Einschüchterung. Gesellschaftliche Schranken Neben den gesetzlichen Freiheits- schranken gibt es aber auch die gesellschaftlichen: Es ist der Zwang akzeptiert zu werden. Gelingt das nicht, fühlt man sich minderwertig und ausgegrenzt. Dazu kommt die Ausweglosigkeit: Man will dieses Gefühl aufheben, gibt sich Mühe, versucht etwas, hat aber nicht die Im Gefängnis über Freiheit nachgedacht Fortsetzung auf Seite 3 Eine schwere Kindheit und Jugend, Arbeit und Prügel auf Vorrat, in eine Bande Drogen- händler geraten und ins Gefängnis gesteckt: Dies sind die Lebensab- schnitte von Miro Ziva- dinovic. Als Gefangener dachte er intensiv nach, was Freiheit bedeutet. Heute sucht er als Ent- lassener Arbeit. Im Gefängnis hat man Zeit, um seine Gedanken zu ordnen und sie zu Papier zu bringen. Bild: Fotolia/GaZ