GasseZiitigLozärnSeite 3 Nr. 58 August 2015 habe. Ein Engagement ist etwas, das weiter geht. Von daher ist die- ses «Süchtig-Sein» nur eine konse- quente Lebenshaltung, die auch mit einem Job nicht einfach aufhört. Sie haben vor dreissig Jahren die Gassenarbeit in Luzern initiiert. Wie notwendig ist sie heute? Wenn ich realisiere, dass in der Chuchi über 1100 Leute registriert sind, dass im Paradiesgässli achtzig Familien mit insgesamt 150 Kin- dern ein- und ausgehen und wenn ich auf Perron 2 am Bahnhof die Menschen sehe, die sich dort auf- halten, dann merke ich, wie drin- gend nötig die Gassenarbeit ist. Gibt es Ansichten oder Überzeu- gungen zur Drogenarbeit, die Sie geändert haben in diesen dreissig Jahren? Früher habe ich gemeint, ich müs- se alle Betroffenen von den Dro- gen wegbringen und sie in die Ge- sellschaft integrieren. Das stimmt überhaupt nicht mehr. Wenn es ge- lingt, ist es wunderbar. Es ist auch immer wieder möglich. Aber die Betroffenen müssen für einen Aus- stieg selber motiviert sein. Ich kann nicht für sie den Weg machen. Der Auftrag heisst heute für mich: Vermenschlichung der Gesell- schaft. Für ganz viele, die lange auf der Gasse gelebt haben, ist es heute aussichtslos. Sie bekommen keinen Job mehr. Es fällt ihnen auch schwer, von den Drogen los- zukommen. Ich will mit ihnen auf dem Weg bleiben. Wenn sie sterben müssen, bin ich da und schaue da- für, dass sie menschlich in den Tod begleitet und beerdigt werden. Sind Sie auf eines Ihrer zahlrei- chen Projekte besonders stolz? Das Paradiesgässli liegt mir am Herzen. Das Projekt ermöglichte eine Gewichtsverschiebung hin zu einer Gruppe, die ganz wichtig ist: Eltern und ihre Kinder. Wo es um Kinder und Jugendliche geht, geht es um die Zukunft. Das Pa- radiesgässli war eine wesentliche Innovation und schweizweit das erste Projekt in dieser Art. Wir sind denn auch zum Vorbild für ähnliche Angebote in andern Städten geworden. Wollten Sie in Ihrer oft auch aufreibenden Arbeit nie den Bettel hinschmeissen? Nein. Diese Versuchung habe ich nie gekannt. Ich kam auch nie in eine Burnout ähnliche Situation. Die Arbeit hat immer gestimmt für mich. Ich bin damals nicht von ungefähr aus dem Orden ausge- treten. Ich habe das nie bereut. In meiner Arbeit konnte ich genau das leben, was ich im Gelübde ver- sprochen hatte. Es ist im Grunde fantastisch, welche Angebote seit den Anfängen der Gassenarbeit in Luzern entstanden sind: Wie war das überhaupt möglich? Man muss sehr genau die Not wahrnehmen, die sich zeigt und scharf überlegen, was die Antwort darauf ist. Nachher geht es darum, einen Projektbeschrieb zu machen, der fachlich sauber daherkommt. Wichtig: Das Anliegen muss glaub- würdig sein. So konnte ich jeweils an den Regierungsrat, den Stadtrat und an die Kirche gelangen und die Projekte vermitteln. Wenn das professionell gemacht wird, gibt es immer Menschen, die das unter- stützen. Wichtig waren auch Per- sönlichkeiten wie Franz Kurzmeyer und später Urs W. Studer, dann auch die Zusammenarbeit mit der Polizei und nicht zuletzt die Kir- chen. Diese haben mich von An- fang an durch alle Böden hindurch unterstützt und die Projekte immer mitfinanziert. Wie schätzen Sie das gegenwärti- ge politische Klima für die Anlie- gen der Gassenarbeit ein? Könnte sie es auch mal schwerer haben? Es hat in den letzten dreissig Jahren immer wieder politische Initiativen gegeben, die gegen unsere Arbeit waren. Aber wir konnten stets eine Mehrheit überzeugen, dass es wichtig ist, was wir machen. Vielen Köpfen ist es inzwischen klar ge- worden, dass es für die öffentliche Hand ohne den Einsatz unserer In- stitutionen viel teurer würde. Was wir jetzt an Angeboten haben, ist gut und es braucht keine grossen neuen Würfe. Wenn es gelingt, den Status quo zu stabilisieren und in die Zukunft zu retten, ist schon ganz viel erreicht. Was hat Ihnen persönlich das jahr- zehntelange Engagement für süch- tige Menschen gegeben? Ich schaue mit einer grossen Zu- friedenheit zurück. Ich bin glück- lich, dass es überhaupt gelungen ist, solche Institutionen auf die Beine zu stellen. Ich denke, dass ich meine Vision, das Evangelium und die Botschaft Jesu zu leben, zu einem grossen Teil habe verwirkli- chen können. Ich bin auch dank- bar, dass ich dabei immer gesund geblieben bin. Interview: Pirmin Bossart, freier Journalist, Luzern Fortsetzung von Seite 1 «Ich schaue mit einer grossen Zufriedenheit zurück.» Sepp Riedener Sie waren von 1995 bis 2005 die erste Suchtbeauftragte im Kanton Luzern: Was war Ihre Aufgabe? Heidi Bendel: Mein Auftrag lau- tete: «Unterstützung einer koor- dinierten Suchtpolitik im Rahmen der drogenpolitischen Grundsät- ze». Diese basierten auf der Vier- Säulen-Politik, nämlich Präventi- on, Therapie, Überlebenshilfe und Repression. Eine Hauptaufgabe war es, die verschiedenen Vereine und Angebote im Bereich Überle- benshilfe zu bündeln. Das hat den Anliegen bei den Geldgebern eine bessere Position verschafft. Was haben Sie von dieser Zeit mitgenommen? Ich habe in meiner Arbeit erfah- ren, wie wichtig und grundlegend die Koordination ist. Dabei hilft, wenn man weiss, wie die Leute arbeiten, wie sie ticken. Mein Vis- à-Vis war perfekt. Ich habe mit super Leuten zusammenarbeiten können. Mitgenommen habe ich auch ein Verständnis für die Sze- ne, ihre Probleme und Schwierig- keiten, aber auch die hoffnungs- vollen Seiten, das Menschliche, Gemeinschaftliche. Was haben Sie als Suchtbeauf- tragte realisieren können? Die Reorganisation der zwei Ver- eine Kirchliche Gassenarbeit und Jobdach und je ihren Zuständig- keiten war sicher ein wichtiger Pfeiler. Dass wir die heroinge- stützte Behandlung durchführen konnten, empfand ich als High- light. Hier mussten das Quartier, die Polizei und auch die Regierung ins Boot geholt werden, die dafür Gelder sprachen. Schliesslich galt es, erstmals Leistungsaufträge mit den Vereinen und Verbänden aus- zuarbeiten. Auch das Konzept Suchtprävention und Suchthilfe, das im März 2003 von der Regie- rung genehmigt wurde, ist unter meiner Federführung entstanden. Ich hatte bei meiner Tätigkeit hohe Kompetenzen und spürte ein grosses Vertrauen von Seiten des zuständigen Regierungsrates mir gegenüber. Gab es Anliegen oder Projekte, die Sie nicht realisieren konnten? Wir hätten mehr Gelder gewollt, uns eine selbstverständlichere Unterstützung der Angebote ge- wünscht. Mit andern Worten: et- was mehr Grosszügigkeit im guten Sinne. Das war immer ein gros- ses Ringen. Was hat sich in den letzten zehn Jahren geändert bei den Randständigen und auf der Gasse? Ich denke, dass die Gassenarbeit und ihre Angebote selbstverständ- licher geworden sind. Dass es Dro- genkonsumierende gibt, die auch zu unserer Gesellschaft gehören, wird besser akzeptiert. Hier hilft, dass die spezifische Drogenszene – Stichwort Eisengasse – nicht mehr sichtbar ist. Sie ist weitgehend aus dem Sichtfeld verschwunden. Das Drogenmilieu hat sich diversifi- ziert. Ich finde das eine gute Ent- wicklung, nicht zuletzt zum Schutz der betroffenen Menschen. Wie stark verfolgen Sie, was die Gassenarbeit heute macht? Auf was sind Sie besonders stolz? Ich kaufe regelmässig die GasseZi- itig. Ab und zu gehe ich auch an die Generalversammlung des Ver- eins. Es interessiert mich, wie sich die Institution entwickelt. Stolz bin ich darauf, dass es die Gassenarbeit noch gibt und wie niederschwel- lig sie geblieben ist. Das ist ein hohes Gut, das man oft vergisst. Denn tendenziell landet man ganz schnell in einem Büro und verwal- tet nur noch. Mit besonderer Freu- de erfüllt mich, dass auch das Pa- radiesgässli weiterbesteht und die Eltern das Vertrauen haben, dieses Angebot zu nutzen. Was halten Sie von einer Legalisierung der Drogen? Eine allgemeine Legalisierung fän- de ich problematisch. Heroin und Kokain würde ich nicht legalisie- ren, bei Cannabis wäre ich einver- standen. Die Prävention könnte viel besser betrieben werden, wie sich das bei den legalen Sucht- mitteln Nikotin und Alkohol ja auch zeigt. Glauben Sie, dass das künftige politische Klima weiterhin förderlich sein wird für umfas- sende Sozialangebote, wie man sie in der Drogenarbeit hat? Das politische Klima war auch 1995 nicht so super diesen Menschen ge- genüber. Randständige Projekte ha- ben es immer schwierig. Was sich verhärtet hat, ist die Missgunst ge- genüber Leuten, die wirtschaftliche Sozialhilfe beanspruchen. Interview: Pirmin Bossart «Stolz bin ich darauf, dass es die Gassenarbeit noch gibt» Nach Tätigkeiten auf dem Kantonalen Arbeits- amt und bei der Bür- gergemeinde Luzern als Zuständige für wirt- schaftliche Sozialhilfe übernahm Heidi Bendel 1995 die Stelle als Suchtbeauftragte des Kantons Luzern. Sie kann auf etliche Erfolge zurückblicken. «Die Betroffenen müssen für einen Ausstieg selber motiviert sein.» Sepp Riedener «Mitgenommen habe ich auch die hoffnungsvollen Seiten, das Menschliche, Gemeinschaftliche.» Heidi Bendel «Dass es Drogenkonsumie- rende gibt, die auch zu un- serer Gesellschaft gehören, wird besser akzeptiert.» Heidi Bendel