GasseZiitig Lozärn Nr. 65 Winter 2017 3 Wie es dazu kam, dass ich angefangen habe, harte Drogen zu konsumieren Durch den harzigen Start in meinem Leben und die Auswir- kungen meines Umfeldes begann ich zu glauben, was man mir sagte: Du bist nichts wert, du bist dumm, du bist anders, du bist falsch. Am Ende der 3. Sekundarklasse lernte ich Cannabis ken- nen und merkte, dass ich mich mit diesen schlechten und erdrückenden Gefühlen gar nicht auseinandersetzen muss- te, ich konnte ihnen einfach aus dem Weg gehen, durch Be- täubung. Ich habe die Lehre als Automechaniker während 4 Jahren trotz durchgehendem Cannabis- und Alkoholkonsum abgeschlossen, erhielt aber dann, aufgrund von Führerschei- nentzug wegen wiederholtem Mal Alkohol am Steuer, keine Stelle. Ich habe mir gedacht, dass es eine vorübergehende Lösung sei, in Sizilien – dem Heimatland meiner Eltern – den Wehrdienst zu absolvieren als Überbrückung. Dort lernte ich Heroin kennen, mit dem meine mich erdrückende Gefühlswelt nun noch extremer und blitzartiger ausgeschal- tet werden konnte. Rückblickend kann ich sagen: Ich habe mit circa 13,5–14 Jahren angefangen zu konsumieren, weil ich nie gelernt habe, über meine Gefühle zu reden, noch mit ihnen umzugehen. Wie ändert man ein Leben? Erstmals habe ich meiner Familie zuliebe 2010 einen stati- onären Entzug gemacht, ich war aber noch nicht wirklich bereit dafür. Schon im Dezember 2011 bin ich erneut in die Klinik eingetreten, habe dann einen kalten Entzug gemacht und seither bin ich auf dem Weg. Wieso? Ich wog in meiner schlimmsten Phase noch 48 Kilo, war mehr tot als leben- dig. Mein Vater hat einmal zu mir gesagt vor seinem Tod: «Du rennst dem Sch… und dem Sch… hinterher, doch wirst du das Leben erst verstehen, wenn du eigene Kinder hast.» Dieser Satz hat mich extrem begleitet und neugierig auf sei- ne Definition des Lebens gemacht. Als ich aus der Therapie kam, hatte ich mir zum Ziel gesetzt, in den folgenden 5 Jahren entweder mit der Aus- bildung als Pflegefachmann schon begonnen zu haben oder kurz davor zu sein. Ein Mitglied der Selbsthilfegruppe, die ich besuche, fragte mich, warum ich es nicht als Peer ver- suche. Das hat mich interessiert und ich liess mich auf die Liste setzen. Nach einem Gespräch mit der Pflegedirektion – so hat es begonnen. Im Oktober 2013 habe ich probehalber in Münsterlingen TG als Peer auf der Drogenentzug- und The- rapiestation angefangen. Die gesammelten Erfahrungen und Rückmeldungen der Patientinnen und Patienten und ÜBER LEBEN Neue Hoffnung, Kraft und Perspektiven «Ich habe angefangen zu konsumieren, weil ich nie gelernt habe, über meine Gefühle zu reden, noch mit ihnen umzugehen.» Vincenzo Mannino Die Redaktion behält sich das Recht vor, Korrekturen, die der Lesbarkeit dienen sowie Kürzungen vorzunehmen. Per Brief Verein Kirchliche Gassenarbeit, Murbacherstrasse 20, 6002 Luzern Per Mail gasseziitig@gassenarbeit.ch KOLUMNE Aus dem GAZ-Briefkasten Liebes GasseZiitig-Team Am Mittwoch machte ein GAZ-Verkäufer beim Torbogen am Bahnhof Reklame für die Jubi- läumsausgabe. Ich fragte, ob diese auch zwei Franken kostet oder ob sie teurer sei. Nein, sagte er, sie kostet wie immer nur 2 Franken. Ich gab ihm trotzdem 3 Franken, und er bedankte sich sehr freundlich. Im gleichen Moment kam eine ältere Dame und wollte ebenfalls ein Ex- emplar erstehen. Sie wollte sogleich wissen, wie viel die Zeitung koste. Der Verkäufer erwi- derte, offensichtlich beglückt vom Mehrertrag aus dem Geschäft mit mir: «Die kostet 3 Fran- ken.» Ich blieb stehen und entgegnete: «He, nur weil ich grad 3 Franken gegeben habe, kannst du nicht gleich den Preis erhöhen.» Er hielt kurz inne und entschuldigte sich für die falsche Preisangabe, und wir mussten alle drei herzhaft lachen. Herzliche Grüsse, R. M. aus Gisikon Sehr geehrte Damen und Herren Ich bin seit vielen Jahren ein treuer und regel- mässiger Leser Ihrer GasseZiitig. Doch als ich die vergangene Woche die neuste GasseZiitig kaufte, traute ich meinen Augen nicht. Was für ein Dilettant hat dieses neue Outfit entworfen? Das frühere Erscheinungsbild gefiel mir besser. Diskret, seriös und in Farbe und For- mat seit Jahren unverkennbar die GasseZiitig. Dieses handliche Format konnte man auf der Parkbank, im Bus, im Zug oder nebenbei beim Mittagsimbiss lesen. Dies ist beim neuen Format, so gross wie ein Leintuch, nicht mehr möglich. Umso mehr, als dass die neue Zeitung noch völlig unmöglich gefaltet ist. Zudem die effekt- hascherisch und schreiende Aufmachung. Ein billiges Boulevardblatt für Randstän- dige, schlimmer als der «Blick». Sie vergessen, dass viele Käufer gesetzte Leute sind. Ich zweifle, dass diesen das neue Format gefällt. Ich auf jeden Fall werde zu- künftig die GasseZiitig nicht mehr kaufen! Freundliche Grüsse, G. W. aus Luzern Hallo Gassenarbeit Soeben habe ich eure neueste Ausgabe von heute gelesen. Schmunzeln muss ich immer noch über euren Verkäufer in der Bahnhofs- unterführung. Er schien mir heute Morgen gedanklich beschäftigt mit dem neuen Zei- tungsformat sowie in Sorge, ob sich dies wohl verkaufen liesse. Ich finde die neue Falzung sehr ansprechend und mit einmal Überschlagen findet die Zeitung in jeder Handtasche ihr Plätzchen – ein Grund mehr zum Kauf. Ihr Verkäufer in der Unterführung mit seiner sonnigen, charmanten Art dürf- te hoffentlich inzwischen seine Exemplare auch mit neuem Format abgesetzt haben. Herzliche Grüsse, B.S. aus Hitzkirch Liebe Ziitigsmacherinnen und -macher Grosses Kompliment, ich find die «neue» GAZ ganz toll. Und: beim Lesen im Zug gibt es – dank des neuen Formats – nun Mitlesende! Herzliche Grüsse, T. B.-F. Vincenzo Mannino erzählt von seiner Tätigkeit als Peer-Mitarbeiter in der Suchtabteilung der UPK Basel und wie es dazu kam. Mitarbeitenden waren ermutigend, also habe ich die Peer-Wei- terbildung bei der Pro Mente Sana gemacht. Diese dauerte an- derthalb Jahre. Ich glaube, es gibt noch sehr viele Möglichkeiten für den Einsatz von Peer. Es wird sicher noch einige Zeit dauern, bis der Bedarf dafür in den verschiedenen Bereichen gedeckt ist. Ich bin im Moment auf drei Entzugsstationen, ab April 2018 werde ich auch noch im ambulanten Setting tätig. Warum ich als Peer arbeite und was ich erlebe Es ist fast ein wenig pervers, doch ich lebe heute vom erlebten und überlebten Wahnsinn. Irgendwie hat meine 26-jährige Kon- sumkarriere nun einen Sinn bekommen. Durch meinen grossen Erfahrungsschatz erreiche ich viele Patienten und es ist wahn- sinnig schön, wenn ich erlebe, dass meine Art, mich mitzuteilen, meine natürliche Art, von den Patienten ganz klar und eindeutig verstanden wird. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich dabei um junge oder ältere, weibliche oder männliche Patienten handelt. Damit ich diese Arbeit gut machen kann, brauche ich eine gute Selbstreflexion, Akzeptanz mir selber gegenüber, eine stabi- le und ehrliche Selbstfürsorge und Empathie sowie die Fähigkeit, mich meinem Gegenüber, ob nun Patient/-in oder Mitarbeiten- de/-r, mitzuteilen. Klar, es gibt auch Schwierigkeiten: Wenn mir beispielsweise ehemalige Mitkonsumenten gegenübersitzen in der Klinik. Die Selbstabwertung der Einzelnen ist auch schon in blanken Hass auf mich projiziert worden. «Wie weit kann ich mit der Konfrontation gehen?», muss ich mich immer wieder genau fragen. Am Anfang sind die einen überrascht, dass ein Junkie hier arbeitet. Aber mit der Zeit kommen sie alle gerne und schätzen meine Gruppe und die Einzelberatungen. Sie sind dankbar, wenn sie verstanden werden, und ich bin dankbar, mich in ihnen wieder- zuerkennen. Aufgezeichnet von Vero Beck Peer-Arbeit: was und warum? Peer-Arbeit bedeutet, dass Menschen mit Erfahrung in psychischer Er- schütterung und Genesung ihr reflektiertes, persönliches Erleben zur Un- terstützung von Betroffenen einsetzen und somit als «Expertinnen und Experten aus Erfahrung» tätig werden. Die Psychiatrien richten sich zunehmend neu aus auf Recovery-Ori- entierung und Peer-Arbeit. Auch in der Schweiz ist dadurch Bewegung in die psychiatrische Versorgung gekommen. Peers bringen Erfahrungswis- sen ein, verschaffen sich Gehör und zeigen neue Wege auf, um Betroffene auf ihrem Genesungsweg zu unterstützen und zu begleiten. Peers können Betroffenen Mut und Hoffnung vermitteln, dass Gesundung auch für Men- schen mit einer schweren psychischen Erkrankung möglich ist. Die Peer-Ar- beit wird in der Schweiz schrittweise in die Behandlung einbezogen und zunehmend anerkannt. Erfahrungswissen verändert die psychiatrische Versorgung ins Positive. Darin sind sich heute viele einig. (Auszug aus der Homepage von peer+) In der Suchtarbeit ist die Peer-Arbeit noch neuer als in den restlichen Bereichen der Psychiatrie. Vincenzo Mannino ist, soweit er weiss, der einzige im Suchtbereich der Psychiatrie tätige Peer.