Valentin Beck, Seelsorger Verein Kirchliche Gassenarbeit Luzern. Bild Jutta Vogel Zu Beginn erlauben wir uns die Frage: Welche Drogen konsumierst du? Valentin: (Lacht.) Ich rauche Zigis und trinke Alkohol. Auch THC kenne ich vor allem von der Jugend her ziemlich gut. Härteres nicht. Das lässt der Herrgott sicher durchgehen. Was hat dich dazu bewogen, dich bei der Gassenarbeit zu bewerben? Ich habe für ein Jahr in der Psychiatrischen Klinik St. Urban als Psychiatrieseelsorger gearbeitet. Das war eine neue, be- reichernde Erfahrung. Ich habe dort gemerkt, dass mir diese direkte Art der «Frontseelsorge» mit 1:1-Gesprächen liegt und dass ich es eine sinnvolle und wichtige Aufgabe finde, die auch mit ein Grund für meine Studienwahl Theologie war. Zudem hat mich der Verein Kirchliche Gassenarbeit als Insti- tution beeindruckt. Und du hast offenbar den Verein beeindruckt: Du bist «erst» 37 und hast den Job trotzdem bekommen. Was qualifiziert dich dafür? Echtes Interesse an den Gesprächspartner*innen, an ihrem Leben, an ihren Sorgen, Ängsten und Freuden. Ich habe eine Affinität zu originellen, nicht gradlinigen Biografien – da- von gibt es ja in der Gassenarbeit viele. Zudem meine Pro- fessionalität bezüglich Abgrenzung und Unterscheidung der fachlichen Zuständigkeiten. Hilfreich war sicher auch mein Engagement als Bundespräses von Jungwacht Blauring Schweiz (Jubla). Diese Arbeit, die ich seit 2014 mache, ist zwar auf den ersten Blick ganz was anderes, gleicht der Gassenseel- sorge aber wegen Ziel und Herangehensweise: Sie orientiert sich immer an den Bedürfnissen und der konkreten Situation des Gegenübers. Hast du dich speziell darauf vorbereitet? Ja, ich habe mit anderen Seelsorgenden und Sozialarbeiten- den aus diesem Bereich gesprochen und mir ein Basiswissen betreffend Sucht und Suchtmitteln angelesen. Ausserdem war ich in der Gassenküche und habe mich an «Szeneorten» hinge- setzt, beobachtet und nachgedacht. Was möchtest du erreichen? Ich möchte, dass die Menschen ganzheitlich betrachtet und begleitet werden. Dazu gehört auch die spirituelle Begleitung. Nebst entsprechenden Gesprächen kann das zum Beispiel auch die Ritualgestaltung bei Todesfällen sein. Ich möchte für die Menschen der Gasse ein Gegenüber auf Augenhöhe sein – ein offenes, verlässliches und wohlwollendes Ohr, das ihnen gut tut. Wo vermutest du die grösste Herausforderung? Ich arbeite nur in einem 30%-Pensum. Da darf der administra- tive Anteil mit Sitzungen und so weiter nicht zu gross werden. Schwerpunkt meiner Arbeit muss der direkte Kontakt mit den Klient*innen sein. Die Arbeit mit süchtigen Menschen ist bestimmt sehr anspruchsvoll, da ist viel Elend, und jetzt kommst du und sprichst von einem liebenden Gott – ist das nicht sehr schwierig zu vermitteln? (Lächelt, atmet durch.) Warum es Menschen und ganze Län- der gibt, die speziell viel Elend erleiden müssen, darauf gibt es keine einfachen Antworten. Die direkte Frage nach dem «Warum?» und «Warum ich?» endet meist auch theologisch in einer Sackgasse. Gemäss meiner Überzeugung zeigt sich das Göttliche aber oft auch im Kleinen: Wenn sich Menschen an der Natur oder per- sönlichen Gesprächen erfreuen und füreinander da sind. Gott handelt auch durch andere Menschen: Nächstenliebe, Geborgen- heit und echte Freundschaft in Not können für sucht- und armuts- betroffene Personen sehr wertvoll, ja etwas «Göttliches» sein – wie für alle anderen Menschen auch. Dann sprichst du Gott und «klassische» religiöse Themen oft gar nicht an? Doch, das schon, aber nur, wenn ich aus dem Beziehungsaufbau mit dem Gegenüber spüre, dass diese Themen erwünscht sind, oder wenn es mir aus der Situation heraus angezeigt scheint. Zum Beispiel bei Todesfällen. Seelsorge darf nie Mittel zum Zweck sein, etwa jemanden aus seiner/ihrer Not heraus für den christ- lichen Glauben zu gewinnen. Mir ist es aber ein Anliegen, dass es Räume gibt, in denen ohne Scham über persönliche Glaubensüberzeugungen gespro- chen werden kann – und zwar wertfrei und auf Augenhöhe. Man sollte nicht erst auf dem Sterbebett über die grossen Fragen des Lebens sprechen – weil ihre Beantwortung immer auch Einfluss auf das Leben selbst hat. Wie gehst du dabei vor? Indem ich zum Beispiel Fragen stelle oder auch mal über meine persönlichen weltanschaulichen und religiösen Deutungen spre- che. Gerade ich als «junger» Seelsorger möchte vorleben, dass man mutig und ohne Scham über eigene Glaubensüberzeugun- gen reden kann, wenn man das möchte. Das ist mir auch bei der Jubla ein grosses Anliegen. Ich finde es schade, wenn der spirituelle Teil unseres Le- bens – und dazu gehören für mich sowohl Zweifel, Konflikte, Ängste, als auch Hoffnung und Wertschätzung – in Gesprächen keinen Platz findet. Da doch gerade dieser Teil so enorm wich- tig ist für unsere seelische Gesundheit und Stärke. In Amerika oder afrikanischen Gesellschaften pflegen sie damit einen viel unkomplizierteren, unbelasteteren Umgang. Die katholische Kirche macht es einem auch nicht ein- fach, sich zu ihr zu bekennen: Die Diskriminierung von Frauen etwa oder die Intoleranz gegenüber Homosexuel- len schrecken ab. Absolut. Diese Diskriminierungen widersprechen meines Er- achtens sehr direkt dem Evangelium. «Die Kirche» auf lokaler Ebene ist jedoch vielerorts – zum Beispiel auch in der Stadt Luzern – sehr viel aufgeschlossener und realitätsnaher und geht mit gutem Beispiel voran. Ich habe kein Patentrezept gegen Diskriminierungen, setze mich aber dafür ein, dass man diese alten Zöpfe ab- schneidet. Dazu gehören zum Beispiel die Schuld-und-Sühne- Lehre vom strafenden Gott, die Diskriminierung von Frauen und sexuellen Minderheiten und die veraltete Sexualmoral. Die kirchlichen Reform-Mühlen mahlen ultralangsam, aber manchmal gibts plötzlich einen Ruck ... Dein Wort in Gottes Ohr! Und wie erreichst du eigent- lich Atheist*innen, Leute mit anderen Religionen und so weiter? Solange man einander auf Augenhöhe begegnet, neugierig ist und als Allererstes den Menschen sieht und nicht etwa seine Eigenschaften (wie Hautfarbe, Religion, Suchtbetroffenheit, Behinderung, Sexualität usw.) stehen meiner Erfahrung nach die Tore offen für gute Gespräche über Gott/Götter und die Welt/Welten. Schliesslich ist das Verbindende von uns Men- schen sehr viel grösser als alles Trennende. Das Interview mit Valentin Beck führte Luca Wolf Seit April 2021 heisst der neue Seelsorger der Gassenarbeit Valentin Beck. Der Nachfolger von Franz Zemp spricht im Interview über seine Motivation und seine Ziele – und wieso er niemandem erklären will, «wo Gott hockt». IN EIGENER SACHE «Man sollte nicht erst auf dem Sterbebett über Glaubensfragen sprechen» Valentin Beck, 37, ledig, stammt aus Ruswil, wohnt aber seit zwölf Jahren in der Stadt Luzern. Er hat 2004 bis 2009 an der Uni Fribourg und in Berlin Theologie studiert und danach bis 2011 an der Uni Luzern Religionslehre mit Lehr- diplom für die Gymnasialstufe. 2011 bis 2018 hat er auf der Oberstufe als Religionslehrer unterrichtet. Bei Jungwacht Blauring Schweiz arbeitet er seit 2014 als Bundespräses. 2019/20 wirkte er nebenamtlich als Psychiatrieseelsorger. Privat ist Valentin gerne in Bergen, Hockeyhallen und Bei- zen unterwegs und verschiebt den Schlaf aufs Alter. Die Seelsorge ist einer der fünf Betriebe des Vereins Kirch- liche Gassenarbeit und begleitet Sucht- und Armutsbetrof- fene unabhängig von ihrer Glaubenshaltung bei Todesfällen, in Krisensituationen und bei Sinnfragen. Die Seelsorge um- fasst Gespräche mit Betroffenen und Angehörigen, Besuche (Spital, Klinik, Gefängnis oder zu Hause), Gottesdienste zu Weihnachten und weiteren besonderen Anlässen wie Taufen, Segnungen und Abdankungen. GasseZiitig Lozärn Nr. 74 Sommer 2021 3 Zeichnung und Text E. M.