Seidenberg erzählt in seinem 2020 im Salis-Verlag erschie- nenen Buch von seinen Erinnerungen an eine Zeit, als die Schweiz und insbesondere Zürich angesichts der Ströme von drogenabhängigen jungen Menschen, die ihre Tage im Herzen der Stadt unter desolatesten Umständen verbrach- ten, paralysiert und hilflos zuschauten. In seinem Buch geht es um harte und weiche Drogen, Aids, Krankheit und Tod, Verlust und Tabubruch, um schwierige Fragen und um un- bequeme Antworten. Er berichtet, wie er zusammen mit Gleichgesinnten für die Entkriminalisierung der Spritzenab- gabe und die Legalisierung und Vereinfachung der ärztlichen Abgabe von Methadon sowie später von Heroin an Schwerst- süchtige weibelte. Er gilt als Pionier der in den 90er-Jahren als höchst progressiv angesehenen Schweizer Drogenpolitik. Dabei scheut sich der Autor nicht, Referenzpunkte aus seiner eigenen Biografie in die gesamten 278 Seiten des Buches zu streuen: sein Leben war geprägt von der wilden Jugendbewe- gung der Siebziger und Achtziger, von seiner Herkunft aus einem jüdischen Haus und seiner teilweise überbordenden wissenschaftlichen Neugier und seiner Kampfeslust. Seine Erlebnisse sind anekdotisch verpackt in wie zufäl- lig aufeinanderfolgenden kürzeren oder längeren Kapiteln. Im Laufe der Lektüre entsteht durch diese geschickte Anordnung ein zunehmend rundes Bild vom rührigen «kleinen» Doktor und von seinem Antrieb, seiner süchtigen Patientenschaft und seinen Bekannten, aber auch von den politischen und gesell- schaftlichen Entwicklungen dieser bewegten Jahre. Seine teil- weise fast assoziative, dabei respektvolle und empathische und oft mit einem Augenzwinkern und Ironie gehaltene Schreib- weise ist verständlich und leicht zu lesen. Seidenberg schafft es, einen in Abgründe schauen zu lassen, ohne voyeuristisch oder belehrend zu wirken. Seine Sympathie für die beschrie- benen Personen und die Lust an seiner Arbeit schimmern in jeder Zeile durch. Rückblickend aus unserer heutigen Situation in der Schweiz erscheinen die beschriebenen Zustände in der Hero- in- und Aids-Epidemie manches Mal höchst absurd und erschre- cken durch die beinahe vollständige Abwesenheit von Empathie und Verständnis für die damals fast ausnahmslos jugendlichen Süchtigen. Heute sind die Überlebenden aus dieser Zeit über 50 Jahre alt. Die meisten leben zwar weiterhin süchtig, dank dem Engagement von Ärzte/Ärztinnen und sozial Tätigen wie Seidenberg jedoch für die Gesellschaft unauffällig, substituiert durch tägliche Medikamente wie Methadon, Heroin oder auch an- deres. Der Teil, der es nicht von der Gasse weg geschafft hat, ver- kehrt in Einrichtungen, die vom Staat unterstützt werden, wie Gassenküchen oder Konsumräumen, und werden von weiteren Institutionen so aufgefangen, dass der menschenunwürdige Kon- sum unter schlechtesten Bedingungen auf offener Strasse in den Schweizer Städten nur noch selten vorkommt. Seidenberg hat ein Buch für ein breites Publikum geschrie- ben, das kraftvoll eine imaginäre Flagge der Menschlichkeit für eine von wissenschaftlich begründeter Vernunft geleitete Sucht- politik setzen will. Wer die Jahre der offenen Drogenszene und der Angst vor Aids miterlebt hat, sei dies als Kind, Jugendliche*r oder auch erwachsene Person, wird durch das Buch viele Er- innerungen, die längst vorbei und vielleicht vergessen sind, aufgefrischt bekommen. Es ist auch ein gutes Buch für junge Menschen von heute, die wenig wissen über die gesundheitspoli- tischen Entwicklungen in der Schweiz der letzten fünfunddreis- sig Jahre. Dem einen oder der anderen Lesenden wird während der Lektüre der Mund offen bleiben ob der Unglaublichkeit der vorgestellten Geschichten. Menschen wie der umtriebige und unbequeme Dr. Seidenberg sind wichtig, damit in einer Gesell- schaft, in der die Mehrheit als gut situiert gelten darf, auch Menschen ohne Stimme gehört werden und gesellschaftspoli- tische Veränderungen ins Rollen kommen können. Vero Beck Leiterin Paradiesgässli André Seidenberg Das blutige Auge des Platzspitzhirsches – meine Erin- nerung an Menschen, Seuchen und Drogenkrieg, 2020, 279 Seiten, Elster & Salis AG, Zürich. Erhältlich in vielen Buchhandlungen, sowohl als E-Book als auch gebunden. André Seidenberg ist Arzt. Aber nicht irgendein Arzt, sondern wohl für Hunderte von Opioidabhängigen, die in den späten Achtzigern und den Neunzigern Teil der offenen Drogenszene in Zürich waren, einer der ersten Ärzte, der sie nicht als kriminell, sondern als krank einstuften. Eine Buchrezension. STREIFZUG «Das blutige Auge des Platzspitzhirsches»KOLUMNE Valentins Tag Vom Klagen und Auf(er)stehen. Mit dem Velo sind es vom Altersheim Bergli zur GasseChuchi nur vier Minuten, aber zwischen diesen Fixpunkten meiner «Seelsorge-Tour» liegen Welten, was Alltagssorgen und Le- bensperspektiven betrifft. Zwei Beispiele von neulich Während es im Bergli um eine undichte Fensterritze ging, bei der es zieht, suchte jemand in der Chuchi spätabends für die Nacht noch Schutz vor der kalten Bise. Stehen die Bergli-Bewohnenden im (sehr verschieden- farbigen) Herbst ihres Lebens, werden die Jahreszeiten im Gassenleben oft durcheinandergewirbelt: mitten in der Som- merblüte droht der plötzliche Wintereinbruch, oder umge- kehrt. Und Nebel gibts das ganze Jahr. Man könnte deshalb vermuten, dass die Sorgen der Menschen auf der Gasse so existenziell und bedrohlich sind, dass kein Platz ist für die Sorgen anderer. Falsch, wie das Statement eines zeitungslesenden Chuchi-Besuchers zeigt: «Wenn ich die Bilder aus dem Ukraine-Krieg sehe, möchte ich nicht tau- schen.» Dasselbe mit anderen Vorzeichen höre ich bisweilen von Altersheim-Bewohnenden, wenn ich ihnen vom Gassen- leben erzähle. Das zeigt mir Einerseits ist es menschlich und normal, dass wir uns pri- mär mit den Problemen beschäftigen, die grad aktuell vor unserer Nase sind – seien es nun existenzielle Herausforde- rungen oder harmlose «Veloständer-Probleme» (als ob man ein Velo mit kaputtem Ständer nicht einfach an eine Haus- wand stellen könnte). Andererseits bleiben wir trotz dieses natürlichen «Nasen- blicks» durchaus fähig, unsere persönliche Lebenssituation mit dem Schicksal anderer Menschen ins Verhältnis zu setzen und uns sogar ein Stück weit in sie hineinzuversetzen. «Compassion» heisst diese wertvolle Fähigkeit: mitleiden, mit- fühlen und einfühlen. Vielleicht ist diese Fähigkeit der Grund, dass so viele Luzerner*innen die GasseZiitig kaufen? Dass viele Menschen von der Gasse die Tageszeitung lesen? Dass Men- schen im Alter(-sheim) oft sagen: «Mer daf jo ned chlage.»? Nun, klagen dürfen wir alle. Gerade im Blick auf Karfreitag, an dem gefeiert wird, dass sich Einer in letzter Konsequenz in die Sorgen und Leiden des Menschseins eingefühlt hat (daher «Passions-Geschichte»). Nach dem Klagen aber dürfen wir wieder auf(er)stehen, um uns schauen und uns ineinander einfühlen. Das wäre dann Ostern. Apropos Veloständer-Problem Selben tags wurde vor der GasseChuchi mein geliebtes Velo ge- klaut, worüber ich natürlich herrlich klagen konnte – und zwar ganz vergebens: Denn am nächsten Tag stand das Velo unver- sehrt wieder da. «Nur ausgeliehen», liess der Täter ausrichten. Er hatte wohl grad andere Sorgen gehabt ... Valentin Beck Seelsorger Gassenarbeit GasseZiitig Lozärn Nr. 77 Frühling 2022 3 «In diesem Buch geht es um harte und weiche Drogen, Aids, Krankheit und Tod, Verlust und Tabu- bruch, um schwierige Fragen und unbe- queme Antworten.» Vero Beck