4 Schwerpunkt Kulturen fördern Spricht man heute von Kultur, so meint man damit in der Regel – alles. Das grosse Ganze, das Einheitsstiftende und Verbindende, gleichzeitig auch das Kleinteilige, Differenzen Schaffende, Kritisierende. Der kleinste gemeinsame Nenner, der schnell gefunden werden kann, ist der- jenige, dass Kultur heute eher im Plural zu denken sei. War früher die Kultur von der Natur abzugrenzen oder von Verfallsformen wie der Unkultur und der Trivialkultur, so hat sich die Kultur heute von anderen Kultu- ren abzugrenzen oder von anderen gesell- schaftlichen Bereichen wie etwa der Politik, der Wirtschaft oder der Wissenschaft. Anything goes Mit dem «Ende der grossen Erzählungen» (Jean-François Lyotard) ist auch der Abschied von der einen Kultur definitiv. Der Chor des pluralistischen «anything goes» läutet eine Ver- vielfachung von bisher (vermeintlich) eindeu- tigen Begriffen ein. Das gesellschaftliche Uni- versum spaltet sich auf in ein Multiversum aus Wissens-, Freizeit-, Überfluss-, Erlebnis-, Risi- ko-, Fernseh-, Auto-, Spass- und Was-auch-im- mer-Gesellschaft. Die Bindestrich-Etiketten ja- gen sich unerbittlich. Dasselbe gilt auch für die Kultur: Aus der einen Kultur, verstanden als Gesamtheit aller Hervorbringungen einer menschlichen Gemeinschaft, werden viele ver- schiedene Kulturen: Alltags-, Erlebnis-, Frei- zeit-, Industrie-, Migranten-, Gegen-, Jugend-, Massen-, Queer-, Sub-, Shopping-, Volkskultur etc. Und: Was der einen Lust ist (Befreiung von der einen machtvollen Kultur-Definition), ist der anderen Last (Nivellierung, Verlust von Verbindlichkeit in Form und Inhalt). Sich durchsetzen können Die zahlreichen Kulturen, die vielfältig und widersprüchlich sind, die sich gelegentlich auch widersprechen oder widerstreiten, sind alle gleichzeitig da. Ihre Akteure stellen In- halte her, suchen ein Publikum, möchten von ihrer Arbeit leben können. Und sie ha- ben alle den Anspruch, «Kultur» zu sein. Da- mit beginnt eine Auseinandersetzung, eine Konkurrenz. Diejenige nämlich, wer von al- len Kulturproduzentinnen und -produzen- ten jene sind, die Preise gewinnen, gefördert werden, Erfolg haben, sich durchsetzen können – auch gegen Konkurrenz aus ande- ren gesellschaftlichen Bereichen, etwa aus der Politik, der Wissenschaft, dem Sport oder der Sinnstiftungs- und Unterhaltungs- industrie. Neue Freiheit feiern Zur Politik stehen die Kulturen in einem Spannungsverhältnis, weil sie stabilitätsbe- drohend bzw. -fördernd, kritisch und subver- siv bzw. affirmativ sein können, zur Wissen- schaft, weil das Wahre und das Schöne (das Gute mal aussen vor) nicht mehr zwingend dasselbe sind, und zur Wirtschaft, weil «wert- voll» oder «gut» nicht zwingend auch «gut verkäuflich» meint, oft sogar das Gegenteil. Die Verlust- und Gewinnrechnung ist offen- sichtlich: Einem Plus an Freiheit in Ge- schmack und Wahlmöglichkeiten steht ein Minus an Sicherheit und Tradition gegen- Tagebuchskizzen von Thaïs Odermatt, angefertigt während ihres Atelieraufenthaltes in Berlin 2014.