4 Obwalden/Nidwalden «Die Betrachter merken relativ schnell, wo Architektur aufhört und Kunst beginnt.» Der Kulturvermittler Pius Knüsel im Gespräch über «Kunst und Bau» in der Zentralschweiz. Was verstehen Sie unter einem «Kunst und Bau»-Projekt? Pius Knüsel: Man könn- te ganz einfach behaupten, dass «Kunst und Bau»-Projekte dort beginnen, wo die rein funktionale Architektur aufhört. Architek- ten beschäftigen sich jedoch auch mit Gestaltungsfragen, darum würde ich «Kunst und Bau» dort ansetzen, wo bei der Gestal- tung versucht wird, dem Bau einen zusätzli- chen Sinn zu geben. Immer davon ausge- hend, dass Kunst letztlich Sinnfragen stellt. Sollten «Kunst und Bau»-Projekte als solche erkennbar sein? Die Betrachter merken relativ schnell, wo die Architektur aufhört, wo Kunst beginnt. Wenn man Buchstabenreliefs an einer Fassade sieht, die mehr als nur den Namen des Gebäudes nen- nen, dann denkt man schnell an Kunst. Was bedeuten die Buchstaben? Könnten sie eine Täuschung oder gar nur eine Verschönerung sein? Aus meiner Sicht sind die Betrachter stark sensibilisiert. Welche Wirkung hat das Integrieren gegenüber dem Anbringen von Kunst am Bau auf die Lesbarkeit des Pro- jekts? Integriert der Architekt von Anfang an ästhetische Komponenten, welche über den reinen Zweck des Gebäudes hinausge- hen, kann eine Verschmelzung von «Kunst und Bau» selbstständig in Erscheinung tre- ten. Planerisch schafft er Raum für die Kunst. Damit werden Bau und Kunst zu einer Bedeutungseinheit. Beim reinen An- bringen bleiben die Ebenen getrennt. Die Kunst kann nur reagieren auf eine vorgefun- dene Situation. Wie soll «Kunst und Bau» vermittelt werden? Ich bin kein grosser Freund ver- mittelnder Tätigkeiten. Ich erachte die Rolle von Kuratoren dann als positiv, wenn sie sich als Anleiter für Entdeckungen verste- hen. Der Betrachter soll unbedingt ohne Schranken selber interpretieren können. Teilnehmer einer von mir organisierten Füh- rung im Schloss Waldegg in Solothurn er- klärten mir, dass das Hinführen an unbe- kannte Orte viel wichtiger sei als die eigent- liche Führung. Natürlich sind Vermittlung von geschichtlichen Angaben und allgemei- nen Zusammenhängen trotzdem wertvoll. Das Ziel wäre aber höchstens, den Betrachter dazu zu trainieren, Objekte überhaupt zu se- hen, und keinesfalls der Versuch einer Ver- söhnung mit einem Objekt, das man nicht mag. Der Betrachter darf es ruhig unsinnig oder schlecht finden. Gegen den ersten Ein- druck kommt man ohnehin fast nicht an; man kann ihn höchstens verstehen helfen. Welche Vor- und Nachteile können Wettbewerbsverfahren für «Kunst und Bau»-Projekte bieten? Wettbe- werbsverfahren bieten zwei grosse Vortei- le. Erstens entstehen erstaunlich gute Ideen, und zweitens erhalten unbekannte und junge Künstler eine Chance. Ohne Wettbewerb wäre beispielsweise Fabienne Kälin mit bloss 23 Jahren kaum zu ihrem Auftrag am Schulhaus Lücken in Schwyz gekommen. Aber als Wettbewerbsgewin- nerin konnte ihr Projekt «Sturmgurkenab- flug» 2014 ausgeführt werden. Der grosse Nachteil von Wettbewerben ist, dass sie immer zu spät kommen. Der späte Einbe- zug eines Künstlers, wenn bereits Archi- tekturbüro und Bauentwurf feststehen, er- schwert die Integration von «Kunst und Bau». Damit bleibt nur noch die Option einer Applikation von Kunst am Bau. Der Miteinbezug des Künstlers als ästhetische Kraft am Anfang der Planung wäre im Grunde der effizienteste und effektivste Weg. Stararchitekten geniessen bei grossen Projekten oft eine unglaubliche Freiheit in Budget und Partnerwahl und haben dem- entsprechend meistens ihren bevorzugten Künstler schon im Team. Relevant wird die Frage somit vor allem bei mittleren Projek- ten, bei denen die Bauherrschaft ihrem Ge- bäude mehr Sinngehalt geben möchte. Kann an gewissen Orten eine zu hohe Dichte an «Kunst und Bau»-Projekten entstehen? Das Schöne an zeitgenössi- schen «Kunst und Bau»-Projekten ist, dass sie keinen Platz wegnehmen. Mit mehr inte- ressanten Bauten wird auch der Ort span- nender. Es kann so nie eine zu hohe Dichte Der in Cham geborene Pius Knüsel stu- dierte Germanistik, Philosophie und Literaturkritik an der Universität Zü- rich. Seine Laufbahn führte ihn unter anderem zur Programmleitung des Zür- cher Jazzclubs Moods und weiter zur Credit Suisse als Leiter des Kultur- sponsorings. Nach zehn Jahren als Direktor der Pro Helvetia übernahm er schliesslich 2012 die Leitung der Volks- hochschule Zürich, wo er auch für die Redaktion der Bereiche Kunstgeschich- te und Architektur zuständig ist. Als Kulturvermittler übernahm er 2015 und 2016 für die sechs Fachgespräche zu Kunst und Bau der Visarte Zentral- schweiz die Moderation. PIUS KNÜSEL Pius Knüsel. Bild: PD